Schwerpunkte der Theologie von Prof. Dr. Joseph Ratzinger

Kurzvortrag von Prof. Dr. Siegfried Wiedenhofer bei der Präsentation der
Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.-Stiftung in München 12.11.2008

Wenn man eine kurze Übersicht über die Theologie Joseph Ratzingers geben will, steht man natürlich als erstes vor dem Problem der Auswahl. Joseph Ratzinger gehört zu den produktivsten Theologen der Gegenwart, wohl auch der Theologiegeschichte überhaupt. Sein bisheriges veröffentlichtes theologisches Werk umfasst der Bibliographie zufolge, die vom Schülerkreis und insbesondere von Vinzenz Pfnür erarbeitet worden ist und die demnächst erscheint: 130 Bücher und Schriften, von denen wiederum nicht wenige in eine Vielzahl von Sprachen übersetzt worden sind, und über 1300 Einzelbeiträge, von denen das gleiche gilt. Aber auch die Breite der Fragestellungen ist erstaunlich. Der Großteil der Arbeiten stammt aus dem Bereich der dogmatischen Theologie und beschäftigt sich mit der Auslegung der Hauptinhalte des christlichen Glaubens. Angefangen hat er jedoch als Fundamentaltheologe, und mit bestimmten Grundlagenfragen, wie etwa der Frage Glaube und Vernunft und Fragen der Methode der Theologie und vor allem auch Fragen der Ökumenischen Theologie hat er sich durchgehend beschäftigt. Schließlich handelt es sich aber auch um eine Theologie, die sich in besonderer Weise im Dienst an der kirchlichen Praxis des Glaubens versteht. Deshalb gibt es auch viele Arbeiten, die entweder direkt aus pastoralen Aufgaben hervorgegangen sind, wie etwa Predigten und Meditationen, oder Arbeiten die die kirchliche Praxis betreffen und die gewöhnlich dem Bereich praktischer Theologie zugezählt werden, Arbeiten über die Spiritualität, über den Gottesdienst, aber auch über die Ethik, insbesondere über die politische Ethik. Außerdem haben seine dogmatischen Interpretationen fast immer eine starke exegetische Seite und er hat auch einige anerkannte theologie- und dogmengeschichtliche Werke vorgelegt.
Als Letztes, was eine Übersicht nicht einfach macht, kommt hinzu, dass die Theologie Joseph Ratzingers eine durch und durch dialogische Theologie ist, eine Theologie, die sich nicht nur im Hören auf das, was die Quellen zu sagen haben, sondern auch im kritischen Gespräch mit anderen Auffassungen entwickelt, in einem Gespräch, das sich nicht scheut, Irrtümer zu benennen und z.T. auch recht polemisch zu bekämpfen. Was Joseph Ratzinger in seinem ersten Buch, seiner Dissertation über Augustinus sagte, gilt sicher auch für sein eigenes Werk: „Wie jede große Theologie wuchs auch die Augustins aus der Polemik gegen den Irrtum, der sich auch hier als die fruchtbare Macht erwies, ohne die lebendige geistige Bewegung schwerlich denkbar ist.“
Nun ist die Theologie Joseph Ratzingers umgekehrt, wahrscheinlich wie jede große Theologie, von einer großen innerlichen Einheitlichkeit geprägt. Damit ist nicht nur die enge Integration von Denken und Glauben, Reflexion und Meditation gemeint, sondern auch die Einheit der theologischen Grundvision. Die Theologie von Joseph Ratzinger ist zwar faktisch sehr unterschiedlich gelesen, kritisiert und rezipiert worden, aber die entscheidenden Aspekte dieser Grundvision lassen sich m.E. doch ziemlich klar identifizieren.

1. Die Theologie Joseph Ratzingers ist nicht eine Theologie für alle Zeiten oder eine Theologie über der Geschichte, sondern eine Theologie für diese Zeit, und diese Zeit ist für ihn vor allem die Zeit einer fundamentalen Krise.
Da ist zunächst die Krise der katholischen Kirche, aus der das II. Vatikanische Konzil herausführen wollte, das von einem breiten Strom katholischer Reformtheologie vorbereitet und begleitet wurde. Die Theologie Joseph Ratzingers ist Teil dieser Reformtheologie. Sie unterscheidet sich vom Gros der anderen Reformtheologen dann jedoch dadurch, dass für sie bald die Frage der Identität von Glaube und Kirche in den Vordergrund rückte, weil für Joseph Ratzinger nach Konzilsschluss die kirchliche und theologische Situation in der katholischen Kirche immer mehr als eine Krisensituation erschienen ist, als eine Krisensituation, wie es sie, wie er einmal sagte, seit dem 13. Jahrhundert nicht mehr gegeben hat. Zu dieser ersten Krisendiagnose kommt dann zweitens im Zusammenhang des großen Traditionsbruches im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts und im Zusammenhang des Zusammenbruches des Kommunismus die Diagnose einer grundlegenden Moral- und Sinnkrise der modernen Kultur und Gesellschaft, die dann immer bestimmter im Relativismusvorwurf zusammengefasst wird. Schließlich wird dann gegen Ende des zweiten und zu Beginn des dritten Jahrtausends im Zusammenhang der Globalisierungswahrnehmung auch noch eine grundlegende Krise des Christentums und seines Wahrheitsanspruches diagnostiziert und reflektiert.

2. Eine Theologie in einer solchen Zeit der Krise und des Überganges muss sich auf das Wesentliche des christlichen Glaubens, seine Identität und Besonderheit konzentrieren, wie sie in der Grundstruktur des Glaubens und in seiner Konstitution erkennbar ist.
Dieses Wesen des Glaubens lässt sich in den drei entscheidenden Grundpfeilern seines Verständnisses des christlichen Glaubens zusammenfassen – in der Rationalität des Glaubens, in der in der Offenbarung Jesu Christi zentrierten Geschichtlichkeit des Glaubens und in der in der Liebe zusammengefassten Personalität des Glaubens.
Rationalität des Glaubens als Wahrheitsanspruch und Erkenntnisanspruch
Die Theologie Joseph Ratzingers hatte sich vor allem im Gespräch mit den Kirchenvätern und der hochmittelalterlichen Theologie entwickelt, vor allem im Gespräch mit Augustinus, dann auch im Gespräch mit Bonaventura, insgesamt also viel stärker mit der Tradition des christlichen Platonismus als des christlichen Aristotelismus. Von der altkirchlichen Konstitution christlicher Theologie her, auf die er immer wieder Bezug nimmt, werden der Wahrheits- und Erkenntnisanspruch des christlichen Glaubens und ein dialektisches Verhältnis des Glaubens zu Vernunft, Philosophie und Wissenschaft zu einem Grundpfeiler der eigenen Theologie. Auf der einen Seite ist im Zeugnis des christlichen Glaubens mit der endzeitlichen Offenbarung in Jesus Christus die Wahrheit Gottes endgültig in die Geschichte eingetreten. Aber diese Glaubenserkenntnis braucht notwendig das Denken, die Philosophie, weil sie eine Erkenntnis der Wirklichkeit insgesamt behauptet und weil sie außerdem ihr Wahrheitszeugnis verständlich machen muss. Auf der anderen Seite braucht das Denken die Herausforderung der Wahrheitserkenntnis des Glaubens, damit es nach der immer stärkeren abendländischen Ausdifferenzierung von Glaube und Vernunft, Theologie und Philosophie auf der Spur der Suche nach der eigentlichen, einen und ganzen Wahrheit bleiben kann. In seinem Gespräch mit dem Philosophen Jürgen Habermas am 19.4.2004 hier in der Katholischen Akademie Bayern in München konnte Kardinal Ratzinger angesichts der heute unübersehbaren gefährlichen Pathologien sowohl der Religion als auch der Vernunft sogar „von einer notwendigen Korrelationalität von Vernunft und Glaube, Vernunft und Religion sprechen, die zu gegenseitiger Reinigung und Heilung berufen sind und die sich gegenseitig brauchen und das gegenseitig anerkennen müssen“ (Ratzinger, in: Habermas/Ratzinger 2005, 57). Dass die Wahrheitsfrage heute zur theologischen und philosophischen Grundfrage werden muss, ist ihm erst in einem längeren Ringen mit der geistigen Situation der Gegenwart bewusst geworden: Wir verfügen, wie er sagt, zwar nicht über die Wahrheit, aber erst indem wir uns gemeinsam von ihr in Anspruch genommen wissen, können wir der Diktatur der Beliebigkeit und des Relativismus entgehen und das wahre Menschsein und die Würde des Menschen retten. Auf diesem Hintergrund gewinnt zum einen der Schöpfungsglaube, mit dem sich J. Ratzinger seit seinen frühen dogmatischen Vorlesungen immer wieder beschäftigt hat, eine erhöhte theologische Bedeutung. Auch ethische Fragen (zu Bildung, Kultur, Politik, Staat, Recht, Demokratie usw.) werden zunehmend erörtert. Auf der anderen Seite gerät von hier aus (zum ersten Mal ausdrücklich in der „Einführung in das Christentum“) das neuzeitliche Denken in eine radikale Kritik: War für die antike und mittelalterliche Metaphysik die Welt als Ausdruck der (schöpferischen) göttlichen Vernunft sinnvoll, verstehbar, vernünftig und auf ihren Grund hin transparent, so beschränkt sich die vorherrschende neuzeitliche Vernunft auf die Erkenntnis der Phänomene und der faktischen Geschichte sowie auf die kulturelle und technische Produktion von Gütern im Dienst an der Selbstverwirklichung des Menschen. In dieser Umwertung der Werte wird nach Ratzinger die Vernunft nicht nur blind gegenüber der Wahrheit Gottes, sondern – damit verbunden – auch gegenüber der für die Humanität des Menschen wesentlichen Unterscheidung zwischen dem faktischen und dem wahren Menschsein.

Die Geschichtlichkeit des Glaubens und ihre christologische Mitte
Die Wahrheit Gottes, von der die Theologie zu handeln hat, ist nach dem christlichen Gottesbekenntnis geschichtlich definitiv erschienen in Person und Geschichte Jesu Christi, des menschgewordenen Wortes Gottes, des entscheidenden Offenbarungs- und Heilszeichens Gottes in der Welt, welche Offenbarung kraft des Heiligen Geistes in der Kirche je neu gegenwärtig und wirksam wird. Gott hat wirklich den Graben der Unendlichkeit überschritten und ist in Jesus Christus und im Zeugnis der kirchlichen Glaubensgemeinschaft inmitten der Geschichte ganz menschlich zugänglich geworden. Darin ist nicht nur ein bestimmter Absolutheitsanspruch des christlichen Glaubens, sondern auch die Wichtigkeit des Kirchenthemas in der Theologie J. Ratzingers mitgegeben. Die Bedeutung dieser geschichtlichen Positivität des christlichen Glaubens zeigt sich auch darin, dass J. Ratzinger bedeutende historische Forschungsarbeiten vorgelegt hat, dass in seinen dogmatischen Vorlesungen der Glaube als lebendiger Weg durch die Geschichte ausgelegt wurde und dass seine Dogmatik, wie wenig andere, auf ein intensives eigenes exegetisches Studium der biblischen Quellen beruht.

Die Personalität des Glaubens
Die Frage nach der Wahrheit ist nach der Logik des christlichen Glaubens schließlich die Frage nach einer Wahrheit, die wirklich menschlich ist, nämlich die Wahrheit der Liebe, die den Menschen gerade in dem, was ihn auszeichnet, nämlich seinem Personsein wirklich zu sich selbst kommen lässt. In dieser Betonung der Personhaftigkeit des Menschseins und des Glaubens hat sich sicher auch das personalistische Denken der Zwischenkriegszeit (Scheler, Guardini) niedergeschlagen, das auf die theologische Entwicklung Joseph Ratzingers in seiner frühen Phase einen großen Einfluss ausgeübt hat. Denn von dort aus konnte eben gezeigt werden, dass die christliche Botschaft von der Wahrheit Gottes den Menschen nicht als eine fremde Botschaft trifft, die ihm von außen her aufoktroyiert würde, dass sie vielmehr eine Botschaft des Lebens ist, die ihn im vollen und eigentlichen Sinne leben lässt. Und sie ist das gerade deswegen, weil sie eine Botschaft der Liebe ist. Denn der Mensch lebt letztlich von der Liebe, die er empfängt und weitergibt, zuerst und zuletzt von der Liebe, die Gott ist und die in der Geschichte Jesu Christi sichtbar geworden ist. Niemand kann leben, wenn er sich nicht selbst anzunehmen vermag. Niemand aber vermag sich selbst anzunehmen, wenn er nicht zuvor von einem anderen angenommen und geliebt wird. Wahres Menschsein ist auf Geliebtwerden angewiesen, aber eben auf wahre Liebe. Denn Liebe ist von ihrer konkreten Erscheinungsgestalt her nicht weniger vielfältig und ambivalent als Glaube und Hoffnung. Nur wo daher die Liebe mit der Wahrheit identisch ist, vermag sie das Heil des Menschen zu gewähren. Und natürlich gilt auch umgekehrt: Nur wo die Wahrheit mit der Liebe verbunden ist, wird sie zu einer Möglichkeit, die dem Menschen nicht aufgezwungen werden muss, sondern die er in Freiheit übernehmen kann. Die Liebe ist daher die eigentliche Mitte des Christentums.
Nun könnte man sich natürlich abschließend fragen: Warum dann überhaupt noch eine Stiftung? Ist das nicht ohnedies ein sehr attraktives Verständnis des christlichen Glaubens? Und zeigen nicht die unglaublichen Verkaufszahlen – das Jesus-Buch ging z.B. allein in der deutschen Erstauflage mit 200.000 Exemplaren an den Start -, dass diese Botschaft schon in vielfacher Weise angekommen ist, dass diese Theologie bereits ein reiches Echo gefunden hat? Nun bedarf jeder große geistige Impuls, damit er lebendig und wirksam bleibt, der Pflege, der Fortsetzung, der Auslegung, der Anwendung, der Konkretisierung, der Verteidigung gegenüber Missverständnissen und falscher Kritik, aber auch der Weiterführung, Auseinandersetzung und Kritik. Nie war es das Ziel des theologischen Lehrers Joseph Ratzinger, eine Schule zu gründen, in der alle auf seine theologischen Vorstellungen eingeschworen werden. Immer ging es in erster Linie darum, den befreienden und erlösenden Anspruch der Wahrheit des Glaubens für die heutige Zeit zu verstehen und zur Sprache zu bringen, meist im dialogischen, nicht selten auch in durchaus polemischen Streit um diese Wahrheit. Eine Stiftung, die nicht nur das Studium seiner Theologie, sondern auch eine Theologie in seinem Geist fördern will, könnte sich dabei vielleicht einer konziliaren Wegweisung bedienen. Die Offenbarungskonstitution des II. Vatikanischen Konzils hat nämlich ihre Traditionstreue gegenüber den vorausgegangenen Konzilien in dem Ausdruck zusammengefasst: „vestigiis inhaerens“, „an den Spuren dieser Konzilien haftend“, wobei allerdings der Übersetzungsvorschlag von Karl Barth hinzuzudenken ist, dem übrigens Joseph Ratzinger in seinem Kommentar zugestimmt hat: „Von den Spuren jener Konzilien her vorwärtsgehend“. Denn diese Stiftung ist nicht nur der Untersuchung und Pflege eines gewaltigen vorliegenden theologischen Werkes gewidmet, sondern mehr noch seiner lebendigen Zukunft als wirksamer Orientierung auf dem Weg des Glaubens in der Form vielgestaltiger Rezeption, Fortführung, Auseinandersetzung und auch Kritik.