2. Gedanken von Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI.
zum Thema „Heilige als Reformer“

 

Im „Jahr des geweihten Lebens“ nimmt die Kirche die vielfältigen Formen in den Blick, durch die sich Christen mit ihrem Leben Gott übereignen und sich in einen spezifischen Dienst am Heil der Menschen hineinnehmen lassen. So treten darin nicht nur die Orden und Kongregationen vor Augen, sondern auch die Säkularinstitute, die Gesellschaften apostolischen Lebens, individuelle Formen wie der Stand der Eremiten und der gottgeweihten Jungfrauen ebenso wie neuere Weisen geweihten Lebens, wie sie uns in vielen Neuen Geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen begegnen.

Mit diesem besonderen Jahr der Kirche werden zugleich unzählige Heilige erkennbar, die aus dem geweihten Leben hervorgegangen sind. Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. hat von ihnen häufig als den eigentlichen „Reformern der Kirche“ gesprochen. Was ist darunter zu verstehen? In seiner Ansprache zur Vigil beim XX. Weltjugendtag in Köln am 20. August 2005 rief Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. den jungen Menschen Folgendes in Erinnerung:

„Es ist die große Schar der Heiligen, der bekannten und der unbekannten, in denen der Herr das Evangelium die Geschichte hindurch aufgeblättert hat und aufblättert. In ihrem Leben kommt wie in einem großen Bilderbogen der Reichtum des Evangeliums zum Vorschein. Sie sind die Lichtspur Gottes, die er selbst durch die Geschichte gezogen hat und zieht.“ (Weltjugendtag in Köln, Vigilfeier, 20. August 2005)

Heilige sind demzufolge Zeugen des Evangeliums, Träger des göttlichen Lichts, das in ihnen und durch ihr Leben erkennbar wird. Durch sie leuchtet Christus in die Dunkelheiten hinein – in die Dunkelheiten meines Lebens, der Kirche, der Welt. Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. geht aber noch einen Schritt weiter, indem er aufzeigt, wie sich das konkret vollzieht.

„Die Seligen und Heiligen waren Menschen, die nicht verzweifelt nach ihrem eigenen Glück Ausschau hielten, sondern einfach sich geben wollten, weil sie vom Licht Jesu Christi getroffen waren. Und so zeigen sie uns den Weg, wie man glücklich wird, wie man das macht, ein Mensch zu sein. Im Auf und Ab der Geschichte waren sie die wirklichen Erneuerer, die immer wieder die Geschichte aus den dunklen Tälern herausgeholt haben, in denen sie immer neu zu versinken droht, und immer wieder so viel Licht in sie brachten, daß man dem Wort Gottes, wenn vielleicht auch unter Schmerzen, zustimmen kann, der am Ende des Schöpfungswerkes gesagt hatte: Es ist gut.“ (Ebd.)

Die Reform der Heiligen ist in ihrem innersten Kern eine Erneuerung im Glauben, eine bekehrte Hinwendung zu Jesus Christus, seine Hineinholung in das Auf und Ab des Alltags. Die vordinglichste Aufgabe dieser Heiligenreform liegt somit offensichtlich darin, die Menschen in eine unmittelbare Beziehung zu Jesus Christus, in eine Berührung mit der Liebe Christi hineinzuführen. Und immer da, wo sich der Mensch dem Erlöser neu zuwendet und ihn in seinem Wort und in den Sakramenten der Kirche als Wahrheit und Licht des Lebens erfährt, wird zugleich die Kirche neu. Durch die Christen, durch die Heiligen beginnt die Kirche den neu auszustrahlen, der ihre Mitte ist: Jesus Christus. Dieses Zeugnis vermag den Menschen in seinem Innersten zu treffen. In den Jahren als Professor hat Joseph Ratzinger deshalb einmal davon gesprochen, dass die Heiligen „Auslegung Jesu Christi“ sind, in denen er und auch die Kirche konkret erfahrbar werden (vgl. dazu Dogma und Verkündigung, S. 61). Wie entscheidend dieses Zeugnis der Heiligen ist, weiß Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. in seiner Vigil-Ansprache beinahe provozierend zu formulieren:.

„Nur von den Heiligen, nur von Gott her kommt die wirkliche Revolution, die grundlegende Änderung der Welt. Wir haben im abgelaufenen Jahrhundert die Revolutionen erlebt, deren gemeinsames Programm es war, nicht mehr auf Gott zu warten, sondern die Sache der Verfassung der Welt ganz selbst in die Hände zu nehmen. Und wir haben gesehen, daß damit immer ein menschlicher, ein parteilicher Standpunkt zum absoluten Maßstab genommen wurde […]. Es macht den Menschen nicht frei, sondern entehrt ihn und versklavt ihn. Nicht die Ideologien retten die Welt, sondern allein die Hinwendung zum lebendigen Gott, der unser Schöpfer, der Garant unserer Freiheit, der Garant des wirklich Guten und Wahren ist. Die wirkliche Revolution besteht allein in der radikalen Hinwendung zu Gott, der das Maß des Gerechten und zugleich die ewige Liebe ist. Und was könnte uns denn retten wenn nicht die Liebe?“ (Ebd.)

Gerade der letzte Gedanke rührt an die Aufforderung, selbst solche Menschen zu werden. Jeder Christ nimmt einen Platz in der Kirche und für die Welt ein, den niemand anders innehaben kann, weil das christliche Zeugnis höchstpersönlich und zugleich unverwechselbar ist. Eben darin sieht Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. auch den Grund für die zahlreichen Heilig- und Seligsprechungen im Pontifikat von Johannes Paul II.:

„Mein verehrter Vorgänger Papst Johannes Paul II. hat eine große Schar von Menschen vergangener und naher Zeiten selig- und heiliggesprochen. Er wollte uns in diesen Gestalten zeigen, wie es geht, ein Christ zu sein; wie es geht, das Leben recht zu machen – nach der Weise Gottes zu leben.“ (Ebd.)

Der Gedanke der Reform bewahrt uns im Blick auf die Heiligen vor der Meinung, wir seien dieser Berufung zur Heiligkeit unwürdig. Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. ermutigt deshalb in Anerkenntnis der Zerbrechlichkeit des eigenen Glaubens zu einem Schritt der Bekehrung und Erneuerung:

„An der Kirche kann man sehr viel Kritik üben. Wir wissen es, und der Herr hat es uns gesagt: Sie ist ein Netz mit guten und schlechten Fischen, ein Acker mit Weizen und Unkraut. […] So hält er auch uns selber den Spiegel vor und ruft uns auf, mit all unseren Fehlern und Schwächen in die Prozession der Heiligen einzutreten, die mit den Weisen aus dem Orient begonnen hat. Im Grund ist es doch tröstlich, daß es Unkraut in der Kirche gibt: In all unseren Fehlern dürfen wir hoffen, doch noch in der Nachfolge Jesu zu sein, der gerade die Sünder berufen hat. Die Kirche ist wie eine menschliche Familie, und sie ist doch zugleich die große Familie Gottes, durch die er einen Raum der Gemeinschaft und der Einheit quer durch die Kontinente, durch die Kulturen und Nationen legt. Deswegen freuen wir uns, daß wir zu dieser großen Familie gehören; daß wir Geschwister und Freunde haben in aller Welt. Wir erleben es hier […], wie schön es ist, einer weltweiten Familie anzugehören, die Himmel und Erde, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und alle Teile der Erde umspannt. In dieser großen Weggemeinschaft gehen wir mit Christus, gehen wir mit dem Stern, der die Geschichte erleuchtet.“ (Ebd.)

Und so können wir die Einladung Gottes zur Heiligkeit vernehmen, wie sie Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. in seiner Predigt anlässlich der Heiligsprechung von Frei Antônio de Sant’Anna Galvão OFM am 11. Mai 2007 in São Paulo (Brasilien) erneut an alle Christen weitergegeben hat und wie sie auch heute zur Grundlage einer wahren Reform der Kirche und der Welt werden kann:

„Gott hat gesagt: ‚Seid heilig, weil ich heilig bin‘ (Lev 11,44). Danken wir Gott dem Vater, Gott dem Sohn und Gott dem Heiligen Geist, von denen uns auf die Fürsprache der Jungfrau Maria aller Segen des Himmels kommt; von denen uns dieses Geschenk kommt, das zusammen mit dem Glauben die größte Gnade ist, die einem Menschen gewährt werden kann: der feste Wunsch, die Fülle der Liebe zu erlangen in der Überzeugung, daß die Heiligkeit für jeden im eigenen Lebensstand nicht nur möglich, sondern auch notwendig ist, um der Welt das wahre Antlitz Christi, unseres Freundes, zu zeigen.“

Die Brüder und Schwestern im Stand des geweihten Lebens erinnern uns daran mit ihrem täglichen Lebenszeugnis und ermöglichen so die Erneuerung der Kirche.