Prof. Dr. Joseph Ratzinger – Rückblick eines Schülers
Hommage in Heiligenkreuz 30.3.2017

Prälat Dr. Michael Hofmann

Wie ich zu Prof. Joseph Ratzinger kam …
Nach der Wahl von Joseph Ratzinger zum Papst wurde ich gelegentlich gefragt, wie ich mich als einer seiner Schüler fühle. Meine lapidare Antwort war: „Man muss sich halt den richtigen Doktorvater suchen.“

Als junger Kaplan saß ich 1966 beim ersten Deutschen Katholikentag nach dem II. Vatikanischen Konzil im Hof der Alten Hofhaltung in Bamberg. Prof. Dr. Jo­seph Ratzinger hielt den Hauptvortrag, und ich war fasziniert.

Als mein Bischof 1970 die Erlaubnis zum Weiterstudium gab, wollte er, dass ich in Dogmatik promoviere. Er ließ mir aber die freie Wahl des Doktorvaters. Von Prof. Walter Kasper und Prof. Karl Lehmann ging damals das Gerücht, sie würden bald die Universität wechseln. Wieder einen Umzug, so nach einem oder einem halben Jahr, das wollte ich mir nicht antun. Prof. Karl Rahner war mir zu alt. Ich hatte Angst: Denn einem Doktoranden kann nichts Schlimmeres passieren, als dass sein Doktorvater während der Doktorarbeit stirbt. Dann kann man durch die Welt reisen und einen Professor suchen, den das Thema, an dem man arbeitet, interessiert.

Also entschied ich mich für Prof. Joseph Ratzinger: Er war ja erst kurz vorher nach Regensburg übergesiedelt und war auch noch „jung“. Ich kannte damals von ihm nur seine „Einführung in das Christentum“. Allerdings war er mir natürlich als Konzilstheologe ein Begriff!
Ich schickte ihm einige meiner Seminararbeiten von früher zur Einsicht. Er sagte mir dann bei meinem ersten Besuch: „Wenn Sie sich sonst noch nicht umgeschaut haben, schauen Sie sich erst mal um, und wenn Sie dann doch zu mir kommen wollen, nehme ich Sie schon.“
Ich fuhr nach München und sprach mit Prof. Scheffczyk und Prof. Schmaus. Damit hatte ich meine Schuldigkeit getan. Dann ging zu Prof. Ratzinger zurück und erklärte ihm: „Ich möchte doch bei Ihnen promovieren!“

Für den Themenbereich, über den ich gerne arbeiten wollte, schlug mir Prof. Ratzinger
drei Theologen vor:

Johannes Dietenberger OP (ca. 1475-1537). Der sei nur von seiner Bibelübersetzung
her bekannt, seine theologischen Schriften seien ziemlich unbekannt,

den als Modernisten verschieenen George Tyrrell (1861-1907), und schließlich

den Jesuitentheologen Dionysius Petavius (1583-1652

Ich ließ mir aus der Erlanger Universitätsbibliothek die entsprechenden Bücher kommen und als in Regensburg eintraf, war mir schon klar: Ich werde über Dionysius Petavius (Denis Petau) arbeiten.

Wie sich Prof. Joseph Ratzinger um seine Schüler gekümmert hat…
Prof. Ratzinger hatte damals nicht nur in seinen Vorlesungen viele Hörer, sondern er hatte auch immer viele Doktoranden, in all den Jahren insgesamt sicher über 40! Und er nahm sich auch viel Zeit für seine Schüler bzw. Schülerinnen: Alle 14 Tage gab es ein Doktorandenkolloquium, in dem die einzel­nen den Stand und die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Arbeit präsentierten. Auch die Doktoranden von Prof. Johann Auer konnten daran teilnehmen. Jeweils im Wintersemester gab es einen gemeinsamen Studientag und im Sommersemester ein gemeinsames Wochenende, zu dem immer Referenten von auswärts eingeladen wurden (die evangelischen Theologen Prof. Riesenfeld aus Uppsala und Prof. Bürkle aus München, zwei unser damaligen Referenten konvertierten später zum katholischen Glauben!).

Prof. Ratzinger nahm sich auch viel Zeit, um persönlich die einzelnen und den Fortgang ihrer Doktorarbeit zu be­gleiten. Er wusste, was es bedeu­tet, für jemand Verantwortung zu übernehmen. Er hat seinen Schülerkreis regelrecht „gepflegt“. Ich muss hier nicht wiederholen, was P. Stephan Horn schon berichtet hat.

Ein liebes Zeichen der Verbundenheit mit seinen Schülern war für mich als Regens, dass Kardinal Ratzinger prompt zusagte, als ich 1986 anfragte, ob er zum 400jährigen Jubiläum des Bamberger Priesterse­minars nach Bamberg kommen würde. Er kam, hielt den Festgottesdienst und den Festvortrag, und es war charakteristisch, dass er sich zum Mittagsimbiss bewusst in die Reihe der Wartenden am Grill einreihte und dass er jede Sonderbehandlung, Bevorzugung oder Bedienung ablehnte.

Jochen Jaschke, der spätere Weihbischof von Hamburg und ich hatten einigermaßen gemeinsam mit unserer Dissertation begonnen und ziemlich genau miteinander abgeschlossen. Jaschke hat bei Ratzinger über Irenäus, einen Theologen des 2. Jhds., gearbeitet. Prof. Ratzinger gestand mir: „In Ihrer Arbeit habe ich nicht jedes Zitat überprüft. Bei Herrn Jaschke habe ich das getan.“ Es gibt eben viele Irenäus-Kenner und da wollte Prof. Ratzinger auf Nummer sicher gehen! Doch welch‘ eine Arbeitsleistung!

Joseph Ratzinger – ein humorvoller Mensch
Papst Franziskus scheint mir ein guter Menschenkenner zu sein. Denn seine Ansprache zum 65jährigen Priesterjubiläum von Papst Benedikt XVI. beschloss er mit einem Lob für Benedikts „Sinn für gesunden und fröhlichen Humor“. Gesunder und fröhlicher Humor! Ich meine, das ist eine Facette im Charakter von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt, die meist zu wenig in den Blick genommen wird, obwohl Erzbischof Georg Gänswein mal in einem Interview über Papa emeritus sagte: „Natürlich machen sich die Jahre bemerkbar. Er ist ein alter Herr, aber ganz klar und hell im Kopf und nach wie vor sehr humorvoll.“

So möchte ich heute in meiner Hommage mal den Blick auf Joseph Ratzingers Humor richten:
1988 wurde Joseph Kardinal Ratzinger der Karl-Valentins-Orden verliehen. Die Älteren unter uns werden sich noch an diesen Karl Valentin und seinen allerdings schrägen Humor erinnern. Es gibt auch Gerüchte, dass Joseph Ratzinger seinerzeit 1948 bei der Beerdigung von Karl Valentin teilgenommen hätte. Aber ob das stimmt? Es ist ein Gerücht. Man müsste ihn selbst fragen.
Weil ich wusste, wie sehr Joseph Ratzinger sich als Alt-Bayer fühlt, habe ich ihm mal so hingeknallt: „Europa war eine schöne Einheit, als die Franken herrschten.“ (Ich dachte an Karl, den Großen). „Und es wird erst wieder zur echten Einheit finden, wenn in Europa die Franken das Heft in die Hand nehmen.“ So konnte man mit Prof. Ratzinger scherzen und feixen.

Mein Studienobjekt Dionysius Petavius war ein herausragender Theologe des 17. Jhds. Aber es soll sogar Dogmatikprofessoren geben, die noch nie von ihm gehört haben.

Als ich mich November 1971 durch 4.000 Seiten Latein durchgearbeitet hatte, lud ich zu einer Petavius-Feier ein. Jeder, der daran teilnehmen wollte, musste ein Loblied auf Petavius mitbringen. So kam auch Prof. Ratzinger mit einem selbstverfassten Gedicht, und das möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Also so etwas, wie eine Welturaufführung zum 90. Geburtstag des Verfassers!

Damit so einige Anspielungen verständlich werden, muss ich allerdings einiges vorausschicken:

Unter den Memorabilia, die sie in Paris erlebt hatten, berichteten zwei Europareisende des
17. Jhd.: „Vidimus Petavium docentem et discipulos dormientes.“
(Das übersetze ich lieber nicht!)

Die zweite Auflage der Dogmata theologica des Petavius wurde von dem Protestanten
Jean Le Clerc (Johannes Clericus) herausgegeben. Sie landete mit allen Werken Le Clerc’s
auf dem Römischen Index der verbotenen Bücher.

Johann Evangelist Kuhn (1806-1887), einer der Hauptvertreter der Tübinger Schule, kam
immer wieder in die Vorlesungen und behauptete, wunderbare Zitate bei den Kirchenvätern gefunden zu haben. In Wirklichkeit hatte er sie bei Petavius abgeschrieben, wie Franz Xaver Linsenmann (1835-1898) in seinen Lebenserinnerungen mit kriminalistischem Spürsinn konstatierte.

Antoine Arnauld (1612-1694), mit dem sich Petavius theologisch auseinandergesetzt hat,
war der führende Kopf der Jansenisten in Frankreich. Seine Schwester Angélique war
Äbtissin in Port-Royal.

Also nun zur Welturaufführung:

Der Traum des Petavius.
Es war einmal Denis Petau,
der wurd‘ des Lehrstuhls nicht recht froh,
auf dem er zu Paris dozierte,
weil eines ihn gar sehr genierte:
Die edlen Schüler schliefen meist,
wenn er versprühte seinen Geist.
So dachte der Petau Denis:
Ich bin doch wahrlich ein Genie,
nur die Gesellen merkens nicht,
ins Leere strahlt mein helles Licht.
Doch eines Nachts im tiefsten Schlafe,
da träumte das Genie, das brave
vom Laufe künftiger Jahrhunderte,
daß alle Welt ihn dann bewunderte.
Zuerst bracht‘ ihm des Traumes Schein
vereint mit Tröstung arge Pein.
Denn sieh, er war berühmt geworden,
doch leider nicht in seinem Orden –
die Ketzer lasen seine Werke
und schöpften daraus neue Stärke.
Er ward glossiert nun ganz barbarisch,
man las ihn plötzlich antitrinitarisch
und reimte nunmehr mit Arnauld
den frommen Dionys Petau!
Petavius mit tiefem Stöhnen
tat sich nach besserm Ruhme sehnen.
Er sah, daß ein Jahrhundert weiter
die Leute wurden schon gescheiter
und daß die wackern Tübinger Schwaben
ihn trefflich ausgeschrieben haben.
Doch erst am fernsten Horizonte
sah er, was ihn getrösten konnte:
Ein Jüngling aus dem Frankenland
sein Werk nun endlich ganz verstand.
Sein Licht ging an der Donau auf
und nahm jetzt herrlich seinen Lauf.
Da war Petavius ganz beglückt
und sprach lateinisch hochentzückt:
Francorum genus nobile,
ingenium tuum mobile
ingenii mei lumen aspexit
ac opus meum deinde detexit.
Felix filius Ratisbonensis universitatis,
felices, qui in ea laboratis!
(Prof. Dr. Joseph Ratzinger, Regensburg 14.11.1971)

Schlussbemerkung
Meine Uhr sagt, mir stünden noch zwei Minuten Zeit zu. Gestatten Sie mir also noch eine Schlussbemerkung:

Ich hatte den Professor und Kardinal Dr. Joseph Rat­zinger als einen Mann in Erinne­rung, der eher etwas steif, ja vielleicht schüchtern wirkte, der jedenfalls nicht die kommunikative Ausstrahlung hatte, die so viele an Papst Johannes Paul II. fasziniert hat.

Doch dann eine Überraschung! Ich muss sagen: Ich habe Joseph Ratzinger selten so gelöst und heiter erlebt wie bei seiner „Einführung in den Petrus­dienst“. Sonst wirkte er eher konzentriert und angespannt. Auch z. B. bei seinem Besuch in Bayern zeigte er bei seinen Auftritten eine große Heiterkeit und Gelöstheit. Ich habe damals daraus die Schlussfolgerung gezogen: „Er ist der richtige Mann am richtigen Platz!“

Ich hatte sogar den Eindruck: „Papst Benedikt leidet weniger unter der Last seines hohen Amtes und seiner großen Verantwortung als mancher Pfarrer in Deutschland unter der Last seines kleinen Amtes.“

Ich behaupte: Das hängt sicher nicht zuletzt mit seiner Glaubenshaltung zusammen (vgl. Johannes XXIII.: „Johannes, nimm dich nicht so wichtig!“)

Prof. Heinz (Augsburg) fasste den beschriebenen Wandel vom Präfekten der Glaubenskongregation zum Papst in dem Wort zusammen: Joseph Ratzinger habe sich vom Hirtenhund zum Hirten gewandelt.