Glaube, Theologie und Kirche – Theologen und Gemeinschaft

So wie sich das Thema „Glaube und Vernunft“ als roter Faden durch die Theologie Joseph Ratzingers/Papst Benedikt XVI. zieht, prägt auch die Betonung der notwendigen Verbindung von Theologischer Wissenschaft und Kirchlichkeit des Theologen sein Nachdenken über die Theologie und seine Anregungen für die akademisch betriebene Theologie. Im Folgenden werden aus den unzähligen Gelegenheiten, bei denen sich Joseph Ratzinger als Theologe, Bischof und Papst zu diesem Thema engagiert äußerte, nur ein paar, eher unbekannte Beiträge ausgewählt, die alle um die Frage kreisen: Wie kann man heute in rechter Weise, auch mit Spannungen, Theologe sein? Man kann sie als Perlen auflesen und als Beitrag zum Selbstverständnis eines Theologen und einer Theologin heute durchblättern.

In seinem Festvortrag aus Anlaß des 75. Geburtstages von Kardinal Hermann Volk, Bischof von Mainz, sagte der Theologieprofessor Joseph Ratzinger 1978 unter der Frage „Was ist Theologie?“:

Es war eine unerhörte Wende, als Abaelard Theologie aus dem Raum des Monasterium und der Kirche in den Hörsaal und damit in die akademische Neutralität übertrug. Trotzdem war auch in den folgenden Jahrhunderten immer klar geblieben, daß man Theologie nur im Kontext einer entsprechenden geistlichen Praxis und mit der Bereitschaft studieren kann, sie gleichzeitig als Lebensanspruch zu verstehen. Mir scheint, daß wir eigentlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg und vollends nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil dazu gekommen sind, daß Theologie pur akademisch studiert werden kann wie irgendein exotisches Objekt, von dem man sich Kenntnisse erwirbt, deren Weitergabe dem Lebensunterhalt dient. Aber so wie man schwimmen nicht ohne Wasser lernen kann und Medizin nicht ohne den Umgang mit dem kranken Menschen, so kann man Theologie nicht erlernen ohne die geistigen Vollzüge, in denen sie lebt.

(IKaZ Communio 8 (1979), 121-128; 127 f.)

In der Generalaudienz am 4. November 2009 kam Papst Benedikt XVI. nochmals auf Abaelard zu sprechen, dieses Mal beschrieb er die große Auseinandersetzung, die sich im 12. Jahrhundert zwischen Abaelard und Bernhard von Clairvaux abspielte. Er betonte dabei die Berechtigung und spezifisch kirchliche Charakteristik theologischer Auseinandersetzungen:

Was können wir, heute, aus der mit oft heftigen Tönen geführten Auseinandersetzung zwischen Bernhard und Abaelard und im Allgemeinen zwischen der monastischen und der scholastischen Theologie lernen? Vor allem glaube ich, dass sie den Nutzen und die Notwendigkeit einer gesunden theologischen Diskussion in der Kirche zeigt. Vor allem dann, wenn die diskutierten Fragen nicht vom Lehramt definiert worden sind, das, wie dem auch sei, ein unaufgebbarer Bezugspunkt bleibt. Der heilige Bernhard, aber auch Abaelard, anerkannten immer ohne Zögern die Autorität. Die Verurteilungen, die Letzterem widerfuhren, erinnern uns daran, dass im Bereich der Theologie ein Gleichgewicht zwischen dem gegeben sein muss, was wir die architektonischen Prinzipien nennen können, die durch die Offenbarung gegeben worden sind. (…)
Ich möchte schließlich daran erinnern, dass die theologische Auseinandersetzung zwischen Bernhard und Abaelard in einer vollen Versöhnung der beiden zu ihrem Abschluß kam. Dies geschah dank der Vermittlung eines gemeinsamen Freundes, des Abts von Cluny, Petrus Venerabilis. Abaelard bewies Demut, indem er seine Irrtümer anerkannte, Bernhard zeigte große Güte. Bei beiden überwog das, was wirklich am Herzen liegen muss, wenn eine theologische Kontroverse auftritt, das heißt: den Glauben der Kirche zu schützen und die Wahrheit in der Liebe triumphieren zu lassen. Dies möge auch heute die Haltung sein, mit der in der Kirche die Auseinandersetzungen geführt werden, während das Ziel stets die Suche nach der Wahrheit bleibt.

Weil die Theologie so verstanden und so betrieben Teil hat an einer konkreten Geschichte, an der Geschichte Gottes mit seinem Volk, ist sie für Joseph Ratzinger keine bloße Zusammenstellung und Diskussion von Forschungsergebnissen, sondern etwas Lebendiges und Spannendes, das auch das Leben des Theologen selbst bereichert. In seiner Ansprache aus Anlaß der Verleihung der Würde des Ehrendoktors der Theologie durch die Theologische Fakultät Wroclaw/Breslau im Jahr 2000 sprach Kardinal Ratzinger über diesen Charakter der Theologie und gab damit auch ein wenig Einblick in sein eigenes Empfinden und seinen Lebensweg als Theologe:

Glaube ist eine durch den Willen, durch die Herzensberührung mit Gott ermöglichte Antizipation. Er nimmt das schon vorweg, was wir noch nicht sehen und was wir noch nicht haben können. Diese Antizipation bringt uns in Bewegung. Wir müssen ihr nachgehen. Weil die Zustimmung vorweggenommen ist, darum muß das Denken sie einzuholen versuchen und muß auch immer wieder die Gegenbewegung, den motus de contrario, überwinden. Dies ist die Situation des Glaubens, solange der Mensch in dieser Geschichte steht. Darum muß es die ganze Geschichte hindurch Theologie geben; darum bleibt die Aufgabe der Theologie in der Geschichte unabgeschlossen. Das Denken bleibt auf Pilgerschaft wie wir selbst. Und wir pilgern nicht recht, wenn nicht auch unser Denken pilgert.

Wer sich in die Geschichte der Theologie auch nur ein wenig versenkt, kann das Drama dieser Spannung, die nie abgeschlossene Pilgerschaft des Denkens zu Christus hin in ihren immer neuen Anläufen sehen; er kann so die Schönheit und die Faszination des Abenteuers erkennen, das wir Theologie nennen.

(Joseph Ratzinger, Glaube und Theologie. Ansprache aus Anlaß der Verleihung der Würde des Ehrendoktors der Theologie durch die Theologische Fakultät Wroclaw/Breslau, in: ders. Weggemeinschaft des Glaubens. Kirche als Communio. Festgabe zum 75. Geburtstag, hrsg. vom Schülerkreis, Augsburg 2002, 15-25; 23).

Die auch innerkirchlich kritische Funktion der Theologie betonte Joseph Ratzinger in einem Rundfunkbeitrag im Bayerischen Rundfunk am 21. Oktober 1976:

Sie [die Theologie] sollte die Theorie sein, die uns kritisch macht gegen jede Art von Aberglauben, auch gegen den wissenschaftlichen; sie sollte uns helfen, die Struktur des Geheimnisses von der Struktur unserer Träume zu unterscheiden und uns in der Offenheit für den Größeren erhalten, der uns sucht, um uns zu sich und darin zu uns selber zu führen.

Kirchlichkeit der Theologie und Mit-der-Kirche-sein des Theologen sind für Joseph Ratzinger nicht abstrakte Rahmenbedingungen oder Dienstvorschriften, sondern beschreiben Herausforderung, gemeinsam den Weg Gottes mit der Kirche zu verstehen und aufzuschlüsseln. Weil auf diesem Weg von Gott her sich ein Volk sammeln soll, kann auch die Reflexion nur gemeinschaftlich, nicht in der Vereinzelung gelingen. Professionalität der Theologen und Leben in der Gemeinschaft der Kirche gehören zusammen.

In der berühmt gewordenen Rede im Collège des Bernadins in Paris am 12. September 2008 sagte Benedikt XVI. mit einem besonderen Blick auf die Theologie als Schriftexegese:

Wir können es auch einfacher ausdrücken: Die Schrift bedarf der Auslegung, und sie bedarf der Gemeinschaft, in der sie geworden ist und in der sie gelebt wird. In ihr hat sie ihre Einheit, und in ihr öffnet sich der das Ganze zusammenhaltende Sinn. Noch einmal anders gewendet: Es gibt Dimensionen der Bedeutung des Wortes und der Wörter, die sich nur in der gelebten Gemeinschaft dieses Geschichte stiftenden Wortes öffnen. (…)

Wir müssen noch einen Schritt weitergehen, um der Kultur des Wortes ganz ansichtig zu werden, die zum Wesen der Suche nach Gott gehört. Das Wort, das den Weg der Gottsuche öffnet und selbst dieser Weg ist, ist ein gemeinsames Wort (im Orig. franz.: est une Parole qui donne naissance à une communauté.). Gewiß, es trifft jeden einzelnen mitten ins Herz (vgl. Apg 2, 37). Gregor der Große beschreibt dies wie einen jähen Stich, der unsere schläfrige Seele aufreißt und uns wachmacht für Gott. Aber es macht uns so auch wach füreinander. Es führt nicht auf einen bloß individuellen Weg mystischer Versenkung, sondern in die Weggemeinschaft des Glaubens hinein.

In einer Ansprache an die Mitglieder der Internationalen Theologenkommission kehrte dieser Gedanke der Gemeinschaft wieder. Am 3. Dezember 2010 sagte Benedikt XVI.:

Wie die Kirchenväter bekräftigt haben: Jeder, der Gott liebt, wird dazu gedrängt, in einem gewissen Sinne Theologe zu werden, das heißt einer, der von Gott spricht, der Gott denkt und versucht, mit Gott zu denken. (…) Liebe Theologenfreunde, unsere heutige Begegnung bringt auch auf wertvolle und einzigartige Weise die unentbehrliche Einheit zum Ausdruck, die zwischen Theologen und Bischöfen herrschen soll. Man kann nicht Theologe in der Einsamkeit sein: Die Theologen bedürfen des Amtes der Hirten der Kirche, so wie das Lehramt Theologen braucht, die ihren Dienst bis ins Letzte tun – mit all der Askese, die das einschließt.

Im Nachsynodalen Schreiben Verbum Domini vom 30. September 2010 hat Papst Benedikt XVI. diesen Ansatz konkretisiert. In Bezug auf eine beständige Lektüre der Heiligen Schrift gibt er den Theologen zu bedenken:

In diesem Zusammenhang muß jedoch die Gefahr eines individualistischen Ansatzes vermieden werden, indem man sich vor Augen hält, daß das Wort Gottes uns gegeben wurde, um Gemeinschaft aufzubauen, um uns in der Wahrheit zu vereinen auf unserem Weg zu Gott. Es ist ein Wort, das sich an jeden persönlich richtet, aber es ist auch ein Wort, das Gemeinschaft aufbaut, das die Kirche aufbaut.

Deshalb muß der Text immer innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft angegangen werden: Von großer Bedeutung ist die gemeinschaftliche Schriftlesung, weil das lebendige Subjekt der Heiligen Schrift das Volk Gottes, die Kirche, ist. Demnach gehört die Heilige Schrift nicht der Vergangenheit an, weil ihr Subjekt, das von Gott selbst inspirierte Volk Gottes, immer dasselbe ist, und daher ist das Wort immer im lebenden Subjekt lebendig. Es ist darum wichtig, die Heilige Schrift in der Gemeinschaft der Kirche zu lesen und zu hören, das heißt mit allen großen Zeugen dieses Wortes, von den ersten Kirchenvätern bis zu den Heiligen von heute und dem Lehramt von heute. (No. 86)

© Zusammengestellt von Achim Buckenmaier 2013.