• D. Vincent Twomey
    „Im Grunde ist er derselbe geblieben“ Zum Staatsbesuch 2011

Vincent Twomey
Benedikt XVI. Das Gewissen unserer Zeit
Ein theologisches Portrait

Erscheinungsjahr: 2006, Sankt Ulrich Verlag
ISBN 978-3-936484-86-1

Wo Papst Benedikt XVI. geboren ist, weiß inzwischen jeder. Aber wie denkt der Theologieprofessor und feinsinnige Intellektuelle auf dem Stuhl Petri? Welches sind die Grundlinien seiner Theologie und seiner Sicht von Glaube, Kirche und Welt? Vincent Twomey hat jetzt ein lange erwartetes theologisches Portrait von Papst Benedikt XVI. geschrieben, das die Einheit von Leben und Denken im Werk Joseph Ratzingers sichtbar werden läßt.

Hinführung von Prof. Dr. Manfred Hauke

D. Vincent Twomey SVD im Gespräch mit Markus Frädrich

„Im Grunde ist er derselbe geblieben“

Zum ersten Staatsbesuch des Pontifex in seiner Heimat im September 2011

Seine beiden bisherigen Deutschland-Besuche hatte Papst Benedikt XVI. als pastoral oder privat bezeichnet. Im September kommt der Pontifex zu seinem ersten Staatsbesuch in die Heimat. Eine PR-Tour in einer Zeit, in der die katholische Kirche positive Schlagzeilen gut gebrauchen kann? Eine der Fragen, denen Markus Frädrich im Gespräch mit Pater Vincent Twoney nachgegangen ist. Der Steyler Missionar hat 1979 bei Joseph Ratzinger an der Universität Regensburg promoviert. Er gehört dem 1981 gegründeten Schülerkreis des heutigen Papstes an, lehrte bis zu seiner Emeritierung Moraltheologie an der Päpstlichen Universität St Patrick´s in Maynooth/Irland und ist Autor des Buches „Benedikt XVI. – Das Gewissen unserer Zeit“.

Im Fernsehinterview vor seiner Reise nach Süddeutschland im Jahr 2006 hat Benedikt XVI. über den Unterschied seiner öffentlichen Wahrnehmung vor und nach seiner Wahl zum Papst gesagt: „Mein Grundnaturell und auch meine Grundvision ist gewachsen, aber in allen wesentlichen Dingen doch identisch geblieben“. Wie sehen Sie das?

Vor seiner Ernennung zum Papst war der damalige Kardinal Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation für die Wahrung des Glaubens zuständig und musste eine Reihe unpopulärer Entscheidungen treffen. So maßregelte er so manchen Theologen und kritisierte in Veröffentlichungen bestimmte Trends in Kirche und Staat. Diese Entscheidungen brachten ihm den Ruf als „Panzerkardinal“ und „Gottes Rottweiler“ ein. Es sollte angemerkt sein, dass wir, seine ehemaligen Schüler, bei unseren jährlichen Schülerkreistreffen freilich erfuhren, dass solche Entscheidungen oft nur nach intensiver Diskussion mit allen Beteiligten zustande kamen – etwas, das die Medien nie erfuhren. Nichtsdestotrotz erfüllte er seine Aufgabe, ähnlich wie ein Zollbeamter, dessen Aufgabe es ist, unerwünschte Güter ausfindig zu machen. Ebenfalls vergessen blieb die Tatsache, dass er weiterhin als Gelehrter schrieb und veröffentlichte, und sich kritisch mit zeitgenössischen Entwicklungen auseinandersetzte. Als Papst änderte sich seine Rolle dramatisch: Er wurde zum Heiligen Vater, der alle Welt annimmt. Vor seiner Wahl hatten nur wenige Menschen (sogar nur wenige Theologen) seine Schriften gelesen. Nach seiner Wahl war ihre Neugierde geweckt worden, und zu ihrer aller Überraschung stellten sich seine Schriften – wegen ihrer Klarheit und ihres Stils beachtet – als gehaltreich und aufregend heraus, als Beweis seiner enormen Belesenheit und seines Einblicks in den Glauben – und in menschliche Befindlichkeiten. Ein Theologe hat angemerkt, wie oft das Thema „Freude“ in seinen Reden und Betrachtungen als Papst auftaucht. Als derselbe Theologe Ratzingers Frühwerk untersuchte, stellte er fest, dass sich die „Freude“ wie ein Leitmotiv durch seine Schriften zieht. Ja, im Grunde ist er derselbe Mann geblieben: Seine Visionen mögen sich als Papst noch ausgeweitet haben, doch wenn man auf ihre wesentlichen Inhalte schaut, sind sie sein Leben lang gleich geblieben.

Sie beschreiben in ihrem Buch das Gewissen als Schlüsselbegriff zum Verständnis sowohl der Persönlichkeit als auch der Theologie Joseph Ratzingers. Warum?

Aus zwei miteinander verbundenen Gründen. Zunächst einmal finden wir in den Schriften, die er als Theologe verfasst hat, ein hochentwickeltes Verständnis des Gewissens und seiner zentralen Rolle in Kirche und Politik. Im Gegensatz zu falschen Lehren, die ihre Wurzeln in einer bestimmten Konzeption der Moraltheologie haben und das Gewissen zu etwas ganz und gar Subjektivem (einer Art persönlicher Vorliebe) reduzieren, entwickelte Ratzinger eine Theologie des Gewissens, in der John Henry Newman und frühere kirchliche Traditionen widerhallen. Er sieht das Gewissen, vereinfacht ausgedrückt, als die uns innewohnende Wahrheits-Kompetenz, die vom Außen her, erweckt werden muss, ähnlich wie unsere Sprachfähigkeit im Kindsein durch die [Mutter]sprache erweckt wird. Die Lehrautorität der Kirche ist Gottes Werkzeug, unser Gewissen zu erwecken. Was mich zum zweiten Grund bringt: Warum ich Papst Benedikt XVI. als „Gewissen unserer Zeit“ bezeichnet habe. Nämlich wegen der mutigen und klaren Position, die er angesichts populärer Denkströmungen (zum Beispiel zu Fragen der Sexualethik, der künstlichen menschlichen Fortpflanzung und extremen Trends in der Befreiungstheologie) bezogen hat, und die ihn damit zu einem Gewissen der Menschheit gemacht hat – schon zu seinen Zeiten als Kardinalpräfekt. Der zeitweise hysterische Protest gegen die Lehre der Kirche zur menschlichen Sexualität zeigt, dass die Lehren des Papstes einen empfindlichen Nerv treffen – sie treffen das Gewissen jener, die protestieren. Das ist doch kein allzu schlechtes Zeichen!

Sie haben Joseph Ratzinger Anfang der 1970er Jahre an der Universität Regensburg kennengelernt, später bei ihm promoviert und bis heute engen Kontakt gehalten. Bis zu Ihrer Emeritierung waren Sie selbst Ausbilder an verschiedenen Hochschulen. Was hat Joseph Ratzinger Ihnen für ihre Zeit als Hochschullehrer mitgegeben?

Das in wenigen Worten zu beantworten fällt mir schwer. Nehmen Sie als erstes das Vorbild, das er für uns ist. Er war ein Mann, der zuhörte – seinen Studenten bei ihren zögernden Versuchen, theologisch zu denken, den großen Denkern innerhalb und außerhalb der kirchlichen Tradition, vor allem aber dem Wort Gottes, wie es in Schrift und Tradition überliefert wird. Einfach ausgedrückt: Er lehrte uns, demütig angesichts der Wahrheit zu sein, die Wahrheit zu suchen, das Fünkchen Wahrheit in den Meinungen Andersdenkender nicht zu übersehen, selbst wenn diese dem Glauben feindlich gegenüberstehen. Gemäß seiner Bescheidenheit anderen und der Wahrheit gegenüber spornte er uns in seinen Seminaren und im Doktorandenkolloquium zu Debatten an, in denen immer eine Atmosphäre der Offenheit und des aufrichtigen Respekts gegenüber den Meinungen der anderen herrschte, in denen aber zugleich von allen die höchsten akademischen Standards erwartet wurden. Vor allem lehrte er uns, an eine Kirche zu glauben, die zwar manchmal von beschämender menschlicher Schwäche ist, die aber trotz alledem ein Werk Gottes ist – und die, dank ihrer Lehre, ihrer Heiligen und ihrer künstlerischen Errungenschaften – eine immerwährende Quelle der Inspiration darstellt. Diese Gaben waren sozusagen formaler Natur. Darüber hinaus gab uns Ratzinger zahlreiche inhaltliche Aspekte mit auf den Weg: Aufregende Einblicke in die Fülle der kirchlichen Lehre, in die unermesslichen Schätze der Heiligen Schrift, in den Verstand der großen Denker, die – weltlich wie religiös – nach Wahrheit strebten und dies in literarischer oder künstlerischer Form ausdrückten. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Als ich in Bomana, dem örtlichen Priesterseminar von Papua Neuguinea und den Salomoninseln, über die Sakramente lehrte, studierte ich zunächst die traditionellen Riten Papua Neuguineas, um die christlichen Sakramente innerhalb der Kultur des Landes zu verstehen. Indem ich dies tat, folgte ich der Methodologie Ratzingers. Zwei Schriften, die er in den 1970er Jahren über das Wesen der christlichen Sakramente veröffentlichte, waren darüber hinaus für mich der Schlüssel zu einem neuen Liturgieverständnis. Durch sie vermochte ich es, neue Einblicke zu gewinnen, die dann zum Gegenstand eines Kurses wurden, den ich nach meiner Rückkehr nach Europa als Gastprofessor an der Universität Freiburg in der Schweiz hielt. Später, als ich Moraltheologie in Maynooth lehrte, inspirierten mich in Ratzingers Veröffentlichungen zu diesem Thema, etwa – wie bereits erwähnt – über das Wesen des Gewissens, oder in seinen vielen Reflexionen über die Rolle der Moral im politischem Leben, sowie auch über das Verhältnis zwischen Kirche und Staat und so weiter. Und immer noch stoße ich auf neue Aspekte in der Unmenge seiner Schriften, jene eingeschlossen, die er als Papst veröffentlicht hat. Seine Dokumente überraschen und inspirieren mich wieder und wieder.

In Ihrem Buch „Benedikt XVI. – das Gewissen unserer Zeit“ beschreiben Sie Ihren damaligen Professor nicht nur als brillanten Theologen, sondern auch als äußerst geselligen Menschen. „Wo Ratzinger ist, da ist Frohsinn“, schreiben Sie. Dass er in der Öffentlichkeit eher als „Großinquisitor“ dargestellt wurde, haben Sie bereits angesprochen…

Für uns, die wir das Privileg hatten, unter seiner Leitung studieren zu dürfen, und die ihn als munteren, warmherzigen und humorvollen Menschen kennengelernt haben, war es sehr schmerzhaft zu sehen, welche Karikatur die Medien von ihm zeichneten. Sogar gute Katholiken, Kleriker wie Laien, wurden durch ihre unkritische Annahme dieses medial vermittelten Bildes beeinflusst. Nach seiner Wahl konnten die Menschen durch dieselben Medien – vor allem durch das Fernsehen – einen flüchtigen Eindruck des wahren Ratzingers bekommen: Bescheiden, lächelnd, völlig mit sich und der Welt im Reinen – ungeachtet der Tatsache, dass niemand besser als er weiß, was in Kirche und Gesellschaft falsch läuft.

An jenem Abend im April 2005, als aus Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI. wurde, haben Sie in den irischen Nachrichten gesagt: Er wird uns alle überraschen. Und, hat er Sie überrascht?

Und wie! Ich bin zum Beispiel völlig überrascht, wie viele historische Reisen er bis heute unternommen hat – in die USA, Frankreich, die Türkei, nach Australien und – davon war ich besonders überrascht – nach Schottland und England. Ich war außerdem überrascht von dem warmherzigen und enthusiastischen Empfang, den man ihm in diesen und vielen anderen Ländern bereitet hat. Ich bin überrascht, wie Jugendliche aus aller Welt ihm mit so viel Enthusiasmus und Offenheit begegnen. Sie lieben ihn als Person, aber sie haben auch seiner zeitweise fordernden Botschaft zugehört. Ich war außerdem überrascht, wie er langsam, aber bestimmt „Reformen der Reform“ auf den Weg gebracht hat – etwa eine Reform der vom Zweiten Vatikanischen Konzil beabsichtigten Liturgiereform. Ich war überrascht und entzückt von seinen drei Enzykliken, die die Liebe, die Hoffnung und den sozialen Fortschritt auf der Basis von Liebe und Wahrheit zum Thema hatten. Viele seiner Reden haben mich genauso überrascht wie den Rest der Welt: sein Festvortrag in Regensburg, seine Ansprache vor der römischen Kurie im November 2005 über die Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils, sein Vortrag über die zivile und politische Gesellschaft in der Londoner Westminster Hall und seine jüngsten Äußerungen über Politiker in Zagreb. Obwohl der Inhalt dieser Reden der Linie seiner vorherigen, akademischeren Schriften entspricht, gibt der Kontext ihrer Veröffentlichung diesen Ideen eine neue Aussagekraft. Dieser neue Kontext ermöglicht es ihm auch, grundlegende Ideen aus früheren Publikationen weiterzuentwickeln. Mich erstaunt die Tatsache, dass er offensichtlich Zeit für Studien und zum Schreiben findet. Ich bin nachhaltig überrascht von seiner anhaltenden Kreativität als Autor und Denker, die man vorrangig in seinem zweibändigen Buch über Jesus von Nazareth erkennt, aber auch im Interview-Buch „Licht der Welt“. Sein Geist ist so fruchtbar, dass er sich niemals wiederholt. Mit jeder Zeile, die er schreibt, gewinnt man neue Einsichten.

Hat sich Ihr Verhältnis zu ihrem ehemaligen Lehrer seit seiner Ernennung zum Pontifex verändert?

Das hat mich zu allererst überrascht: Papst Benedikt XVI. ist für mich immer Professor Ratzinger geblieben – bescheiden und humorvoll, aufrichtig interessiert an der Person, die zu ihm spricht (er vergisst nichts), jemand, dem man sich ganz entspannt zuwenden kann. Natürlich bringt das hohe Amt, das er bekleidet, sozusagen einen gewissen „Halbschatten“, eine gewisse Distanz mit sich. Aber der Heilige Vater nimmt einem jede Nervosität, wenn man ihm begegnet. Er ist in seinem ganzen Wesen demütig geblieben – und sich voll und ganz bewusst, dass alles Gnade ist, seine Wahl zum Nachfolger Petri eingeschlossen. So bringt es seine neue Position verständlicherweise auch mit sich, dass man nicht mehr denselben Zugang zu seiner Person hat wie zuvor. Eine Abgrenzung, die er wahrscheinlich genauso fühlt wie wir.

Jährlich trifft sich sein Schülerkreis mit Benedikt XVI im Castelgandolfo. Debattieren Sie in diesem Rahmen mit ihm auch über die kontrovers diskutierten Momente seines Pontifikates – etwa über die Vorlesung, mit der er 2006 in der Regensburger Universität aufgrund von Missverständnissen Zorn und Gewalt in der islamischen Welt auslöste?

Das war die zweite große Überraschung: Seine Entscheidung, unser alljährliches Schülerkreistreffen fortzusetzen, eine Tradition, die gut dreizig Jahre besteht. Nachdem er 1977 zum Erzbischof von München und Freising gewählt worden war, zog er sich von seinem Amt als Professor zurück, um noch die Betreuung einiger Doktoranden und Postdoktoranden zu übernehmen (ich war einer von ihnen). Das bedeutete, dass das Doktorandenkolloquium weitergehen musste. Um 1981 lud er alle seine ehemaligen Doktoranden und Postdoktoranden zu einem so genannten „Schülerkreis“ ein, der sich jährlich, üblicherweise während seines Sommerurlaubs traf. Nach der Messe zu seiner Amtseinführung als Papst lud er den Schülerkreis ein, sich mit ihm im Castelgandolfo zu treffen. Ohne großartige Vorplanung entwickelte sich dieses Treffen zu einem Jahr für Jahr wiederkehrenden Ereignis. Der Papst blickt mit uns dabei üblicherweise auf die Ereignisse des vorangegangenen Jahres zurück (das machte er mit uns bereits als Kardinalpräfekt) und uns steht es frei, dies zu kommentieren und Fragen zu stellen. Wir diskutieren dabei nicht seine Entscheidungen als solche. Normalerweise reicht die Zeit nicht, dass wirklich alle Themen besprochen werden können. Zufällig hat er seine Festrede in Regensburg gehalten, nachdem wir einen Monat zurvor in Castelgandolfo über den Islam diskutiert hatten. Das Thema war aber bereits im Vorjahr, dem Jahr seiner Wahl zum Papst gewählt worden. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass unser Treffen einen Einfluss auf die Wahl seiner Worte in Regensburg hatte.

Der Missbrauchsskandal belastet das katholische Leben vor allem im irischen und deutschen Sprachraum. Theologen sprechen von der ernstesten Kirchenkrise seit der Reformation. Wie beurteilen Sie die Schritte, mit denen Benedikt XVI. dieser Krise begegnet?

Niemand in der Kirche hat mehr getan um dieser schweren Krise zu begegnen als der einstige Kardinal Ratzinger und jetzige Papst Benedikt XVI. Bereits als Kardinalpräfekt hat er zahlreiche Schritte unternommen, um entschieden und so schnell wie möglich gegen solche kriminellen Machenschaften vorzugeben, unter Berücksichtigung dessen, was die Gerechtigkeit in Bezug auf die Opfer und die Beschuldigten fordert. In verschiedenen Ländern, etwa in Malta oder in den USA, traf der Papst Opfer sexueller Übergriffe durch Geistliche, weinte mit ihnen und sicherte ihnen seine Entschlossenheit zu, sich für ihre Belange einzusetzen. Sein Krisenmanagement in Irland war schnell, entschieden und radikal. Er bestellte alle irischen Bischöfe nach Rom, um mit ihm und den engsten seiner Mitarbeiter offen zu diskutieren. Sein Brief an die irischen Katholiken geriet meisterhaft, obwohl er in Irland nicht die Resonanz erhielt, die er verdient hätte. Er nahm anschließend bei einer apostolischen Visitation die irischen Priesterseminare und Stadtdiözesen in Augenschein, was wohl einzigartig in der Geschichte ist. Aber er ist sich auch darüber im Klaren, dass die Wurzeln für diese Krise tief liegen – sowohl spirituell als auch intellektuell, oder um es noch genauer zu sagen: theologisch und moralisch. Er ist sich darüber im Klaren, dass es Zeit braucht, die nötigen, radikalen Reformen durchzusetzen. Aber er ist kein Magier, der einen Zauberstab schwingen und die Situation von jetzt auf gleich ändern kann. Er ist nur eine Figur in einem großen Drama, wenngleich eine entscheidende. Wenn Kleriker und Laien nicht zusammenarbeiten, gibt es wenig, was man unternehmen kann. In seinem Brief an die irischen Katholiken hob er die Notwendigkeit von Buße, Gebet und spiritueller Erneuerung hervor. Aber er kann niemanden zwingen, diese essenziellen Maßnahmen zu ergreifen. Er kann nur Gott vertrauen, der alleine Herzen berühren und verändern kann. Und genau das ist es, was wir brauchen.

Die Wir-Sind-Papst-Euphorie in Deutschland ist längst verebbt – stattdessen unterliegt Benedikt XVI in seiner Heimat einer besonders kritischen Wahrnehmung. Sehen Sie seinen ersten Staatsbesuch in Deutschland im September als Teil einer neuen „Charmeoffensive“?

Ich würde es nicht als Charmeoffensive bezeichnen – obwohl der Papst tatsächlich eine sehr charmante Persönlichkeit ist. Von seinem ganzen Wesen her ist er ein Mann mit einer Botschaft, einer Botschaft, die viele nicht hören wollen. Ich bete dafür, dass seine Landsleute offen genug sind, ihm die Chance zu geben, er selbst zu sein. Ich weiß, dass die Papst-Euphorie in Deutschland nicht von allen Katholiken – Klerikern wie Laien – geteilt wurde. Ich habe den Eindruck, dass jene, die sich dem deutschen Oberhirten gegenüber distanziert und kühl verhalten, um die liberale Agenda fürchten, die fälschlicherweise als „Der Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils“ bezeichnet wird. Sie sehen Benedikt XVI. als jemanden, der diese Agenda in Frage stellt. Bis zu einem bestimmten Punkt ist das wahr. Aber der Papst steht für weit mehr als das. Ich appelliere an den Sinn für Fairness Ihrer Landsleute. Ich rufe sie auf, einem der größten Deutschen zuzuhören, den ihre Nation hervorgebracht hat, einem der größten Denker unserer Tage und einem der bescheidensten Diener unter den Dienern Gottes.

Fünf Jahre ist Benedikt XIV. inzwischen im Amt. Wohin steuert die katholische Kirche mit einem Kapitän, den Sie als „Mann des Gewissens“ charakterisieren?

In die Zukunft, eine Zukunft voller Hoffnung und Versprechen. Mein früherer Professor, jetzt Papst Benedikt XVI., lehrt nun die Nationen – im Geiste des heiligen Paulus, den er so sehr verehrt und so eingehend studiert hat. Seine neueste Initiative ist es, eine Abteilung im Vatikan aufzubauen, die die Re-Evangelisation Europas und Amerikas vorantreibt. Diese Initiative hat er – so bin ich mir sicher – in der Überzeugung unternommen, dass Europa und Amerika für Jesus Christus unseren Herrn und Retter wiedergewonnen werden können. Papst Benedikt weiß, dass eine solche Wandlung nur das Ergebnis eines langen und schmerzhaften Prozesses sein kann. Das ist ein weiteres Zeichen der gottgegebenen Hoffnung des Papstes (um auf das Thema seiner zweiten Enzyklika anzuspielen), die all seine Handlungen und Schriften durchdringt und die Quelle der Freude ist, die er verströmt.