Fotos: ©Michael Hofmann

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„Die Gnade meint das gnädige Verhalten Gottes zu uns Menschen, seine Selbstmitteilung und Selbsthingabe. Es ist letztlich die eine Kurzformel für den christlichen Glauben, dass alles Gnade ist.“

Papst Benedikt XVI. und sein Schülerkreis
Kardinal Kurt Koch

Das Zweite Vatikanische Konzil

Die Hermeneutik der Reform

St. Ulrich Verlag
ISBN 978-3-86744-175-9
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Michaela Christine Hastetter, Helmut Hoping (Hg.)Ein hörendes HerzHinführung zur Theologie und Spiritualität von Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI.
Band 5 (RaSt 5) ist unter ISBN 978-3-791-72471-3 lieferbar. Zum Buch 

Ernster Anspruch an die Gnade Gottes
Homilie von Kurt Kardinal Koch in der Eucharistiefeier mit dem Schülerkreis in Castelgandolfo am 1. September 2012

Lesung: 1 Kor 1, 26-31
Evangelium: Mt 25, 14-30

„Wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat.“ Löst man diesen kurzen, aber inhaltsschweren Satz aus dem Kontext des Gleichnisses Jesu vom anvertrauten Geld, könnte man ihn lesen wie eine präzise Beschreibung der heutigen Weltwirtschaftsordnung, bei der sich die Schere zwischen Reichtum und Armut immer mehr vergrössert: Diejenigen, die eh schon haben, erhalten immer mehr noch dazu; denjenigen, die nicht haben, wird auch das noch genommen, was sie haben. Darin besteht das knallharte Marktprinzip in der heutigen Weltwirtschaftsordnung; und es könnte scheinen, dass Jesus mit seinem Gleichnis dieses letztlich erbarmungslose Prinzip nicht nur vorausgeschaut, sondern auch sanktioniert hat. Wenn wir das Evangelium so auf dem Hintergrund der heutigen Welt lesen und in ihm gleichsam eine jesuanische Bestätigung der heutigen Weltwirtschafts-
ordnung sehen würden, dann hätten wir es allerdings gehörig um seine Pointe gebracht.

Evangelium von Gottes Gnade
Worin liegt dann aber seine Pointe? Diese leuchtet erst auf, wenn wir den entscheidenden Unterschied wahrnehmen, der zwischen dem Marktprinzip in der heutigen Weltwirtschaftsordnung und der Stossrichtung des Gleichnisses besteht. Der Unterschied liegt darin, dass die Talente Silbergeld von jenem Mann, der auf Reisen geht, den Dienern anvertraut werden, wie es gleich im zweiten Satz heisst: „Er rief seine Diener und vertraute ihnen sein Vermögen an.“ Bereits mit dieser unscheinbaren Notiz wird etwas Wesentliches zum Ausdruck gebracht: Die Diener haben die Talente nicht von sich aus; und sie haben sie auch nicht selbständig erworben. Sie sind ihnen vielmehr anvertraut, und zwar von jenem Mann, der auf Reisen geht und in dem Jesus selbstverständlich Gott selbst wahrnimmt. Die Diener haben etwas zu verwalten und zu ihm Sorge zu tragen, was nicht ihnen gehört, was ihnen vielmehr anvertraut ist.

Diese Feststellung hat etwas Grundlegendes für unser Christsein zu bedeuten. Wenn wir uns auf dieses Evangelium einlassen, dann können wir uns unmöglich als Machertypen verstehen, nicht als „homo faber“, wie die neuzeitliche Aufklärung den Menschen verräterischerweise definiert hat. Wir können uns vielmehr nur als Lebewesen wahrnehmen und verstehen, die sich und ihr Leben gerade nicht sich selbst verdanken, die vielmehr immer wieder neu ihr Leben als Gabe von Gott her empfangen. Damit berühren wir den innersten Kern jener Sicht, mit der der christliche Glaube den Menschen betrachtet: Überall dort, wo es um das Eigentliche und Zentrale des menschlichen Lebens, um sein Glücken und Gelingen, geht, tut sich gerade nicht unsere eigene Leistung auf und steht nicht unser Selbst-Ruhm im Vordergrund. Vielmehr eröffnet sich eine nicht zu verdrängende und nicht zu verschweigende Passivität des Menschen, nämlich das unverfügbare Sich-Beschenken-Lassen von Gott. Von daher besteht Paulus gegen denjenigen Menschen, der sich seiner eigenen Leistung rühmen will, darauf, dass der Mensch letztlich alles, was er hat und vor allem was er ist, nicht als Resultat seiner eigenen Leistung buchen, sondern nur von Gott als unverdientes Geschenk empfangen kann: „Was hast du, was du nicht empfangen hättest? Wenn du es aber empfangen hast, warum rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“
(1 Kor 4, 7).

Paulus hat damit den Edelstein des Evangeliums neu zum Funkeln gebracht, der mit dem Wort Gnade umschrieben ist und in der ökumenischen Verständigung auch heute eine grosse Rolle zu spielen hat. „Gnade“ ist zweifellos das Grundwort des christlichen Glaubens und deshalb eines der in der Kirche am meisten verwendeten Worte. Es ist heute freilich auch eines der am meisten verbrauchten Worte geworden und droht zu einer blossen Worthülse zu werden. Dennoch gibt es Situationsbereiche, zu deren deutenden Erhellung Menschen auch heute auf das Wort „Gnade“ nicht verzichten können. Der eine Bereich ist derjenige der Rechtsprechung. Wird auf der einen Seite Schuld festgestellt und auf der anderen Seite Schuld auch wirklich eingestanden, bleibt nur noch die Möglichkeit, „Gnade vor Recht ergehen zu lassen“. Trotz aller Blässe dieses Sprachgebrauchs kommt doch zum Vorschein, dass Gnade letztlich ein unverdientes Geschenk ist. Der andere Bereich ist derjenige der Kunst. Wenn sich ein gelungenes Kunstwerk nur unbeholfen mit dem Fleiss und dem Geschick eines Künstlers erklären lässt, spricht man auch heute gerne von einem „begnadeten Künstler“. Bei aller Gebrochenheit dieses Vergleichs kommt darin doch zum Ausdruck, dass Gnade letztlich unverfügbar und aller menschlichen Berechnung entzogen ist. Solche Erfahrungen werden im christlichen Glauben auf jenes letzte und absolute Geheimnis des menschlichen Lebens hin aufgeschlossen, das wir Gott nennen. Gnade meint das gnädige Verhalten Gottes zu uns Menschen, seine Selbstmitteilung und Selbsthingabe. Es ist letztlich die eine Kurzformel für den christlichen Glauben, dass alles Gnade ist.

Gottes Wählen des Kleinen
Im Licht dieser Botschaft von der Gnade Gottes leuchtet auch die tiefe Wahrheit der Worte des Heiligen Paulus in der heutigen Lesung auf, die uns beim ersten Hören gewiss irritieren mögen, dass Gott nicht das Vornehme und Starke, sondern das Törichte und Schwache erwählt. Wer sich aber die Botschaft von der Gnade Gottes zu Herzen gehen lässt, dem begegnet dieser Grundzug im ganzen Weltverhältnis Gottes. Papst Benedikt XVI. hat ihn als Gottes „Wählen des Kleinen“ charakterisiert, der sich in der ganzen Heilsgeschichte wahrnehmen lässt und den wir uns – wenn auch nur in grossen Strichen – vor Augen führen wollen:

Dieses Grundprinzip zeigt sich bereits darin, dass Gott die Erde, dieses Staubkorn im Weltall, zum Schauplatz seines rettenden Handelns ausgewählt hat. Angesichts der unermesslichen und unfassbaren Weite des Kosmos mit seiner unendlichen Vielzahl von Planeten und Galaxien erscheint es zufällig und beinahe willkürlich, dass Gott unsere Erde auserwählt hat, um seine Liebesgeschichte mit uns Menschen zu führen. Das Wählen des Kleinen hat Gott aber für die Erde entscheiden lassen, um sich uns Menschen schenken zu können.

Auf unsere Erde hat Gott Israel, ein politisch praktisch machtloses Volk, dazu auserwählt, der entscheidende Träger seiner Geschichte mit uns Menschen zu sein. Angesichts der Vielzahl von viel potenteren Völkern erscheint die Wahl Gottes für Israel beinahe abenteuerlich. Das Alte Testament führt uns denn auch vor Augen, dass Gottes Entscheidung für Israel für ihn voll von Risiken gewesen ist. Doch auch hier hat Gott das Kleine erwählt und ist mit seinem Volk den Weg durch die Geschichte gegangen.

In Israel ist es Bethlehem, ausserhalb des Ortes, das Gott gewählt hat, um uns Menschen nahe zu sein. Die Wahl Bethlehems erscheint vollends waghalsig, wie der weitere Verlauf der Weihnachtsgeschichte zeigt. Kaum ist das Kind Jesus geboren, droht ihm von den Mächtigen seiner Zeit bereits Gefahr für Leib und Leben, und es findet Schutz und Rettung allein auf den Armen von Josef und Maria.

In Bethlehem ist es Maria, die unscheinbare Jungfrau von Nazaret und demütige Tochter Zion, die Gott auserwählt hat, um als lebendiges Eingangstor für den Gottessohn in unsere Welt zu dienen. Die Erwählung des Kleinen setzt sich fort in der Kirche, die in der Gestalt Mariens bereits vorgebildet ist. So wählt Gott in seiner Geschichte mit uns Menschen immer das Kleine, um durch dieses Kleine und damit auch Schwache und Törichte hindurch Grosses zu wirken.

Keine billige, sondern Gottes teure Gnade
Damit kommen wir auf das Gleichnis vom anvertrauten Geld zurück und müssen nun auch den hohen Anspruch wahrnehmen, der in ihm enthalten ist. Denn die Gnade Gottes, die in diesem Gleichnis uns zugesprochen wird und die wir bisher bedacht haben, ist keine billige Gnade, die allemal jene Gnade ist, die wir mit uns selbst haben. Die Gnade, die uns im Gleichnis vor Augen geführt wird, ist aber eine teure Gnade, die in unser Leben eingreifen und es herausfordern will.

Dieser Anspruch wird bereits sichtbar in der Plazierung dieses Gleichnisses im Matthäusevangelium. Es steht hier zwischen der Rede Jesu über die Endzeit und seiner Ankündigung des Weltgerichts, und es wird zudem unterstrichen mit weiteren Gleichnissen, die allesamt zur Wachsamkeit aufrufen wie die Gleichnisse vom wachsamen Hausherrn, vom treuen und vom schlechten Knecht und von den zehn Jungfrauen. Diese Plazierung weist unmissverständlich darauf hin, dass es in diesem Gleichnis, das für unser Leben steht, buchstäblich auf Leben und Tod geht: Der Mann, der auf Reisen geht, vertraut den Dienern seine Talente an, aber er tut dies nicht, damit die Diener sie bloss aufbewahren und in die Erde verstecken, wie dies der dritte Diener macht. Die Talente werden den Dienern vielmehr anvertraut, damit sie sie gebrauchen, mit ihnen wirtschaften und wuchern. Die Talente sind uns nicht gegeben, damit wir sie verstecken und gut behüten, um sie dem von der Reise zurückgekehrten Mann unverbraucht wieder zurückzugeben. Wir sollen die Talente vielmehr einsetzen und verwenden. Zumindest sollten wir sie auf die Bank legen, damit sie wenigstens Zins bringen.

Dabei verdient im Gleichnis auch hervorgehoben zu werden, dass der Mann, der auf Reisen geht, „jedem nach seinen Fähigkeiten gibt“: „Dem einen gab er fünf Talente Silbergeld, einem anderen zwei, wieder einem anderen eines, jedem nach seinen Fähigkeiten“. Jesus erwartet, dass jeder mit seinen Talenten wuchert. Damit ist uns die tröstliche Botschaft zugesprochen, dass Gott nicht nach dem sehr menschlichen Gerechtigkeitsprinzip handelt: „Jedem das Gleiche“. Er handelt und behandelt uns vielmehr nach dem göttlichen Gerechtigkeitsprinzip: „Jedem das Seine“. Gott erkennt und anerkennt jeden Menschen als ein einmaliges und einzigartiges Lebewesen. Gott will keine „Kopien“ von abstrakten Normen, er will vielmehr Originale, die nach ihrer eigenen Berufung leben.

Damit tritt die Grundspannung in unserem Leben vor Augen, in die uns das Evangelium hinein führt: Auf der einen Seite sollen wir auf unsere Berufung schauen und aus der Botschaft der Gnade leben. Auf der anderen Seite sind wir herausgefordert, mit den Talenten und Gaben, die uns geschenkt sind, zu wuchern. Was wie ein Gegensatz erscheint, verwandelt sich in eine lebendige Spannung, wenn wir das richtige Begründungsverhältnis im Licht des Glaubens betrachten: Menschen und schon gar nicht Menschen des Glaubens werden wir nicht dadurch, dass wir tätig werden und Leistungen vollbringen, sondern dadurch, dass wir uns von Gott her empfangen und beschenken lassen. Tätig werden wir vielmehr erst durch die Liebe, die aus dem Glauben folgt. Es sind nicht unsere Leistungen, die uns zu Menschen machen. Es ist vielmehr der Mensch, der zu Leistungen fähig wird. Oder mit den Worten des Reformators Martin Luther: Nicht die Werke machen die Person, sondern die Person, die von Gott selbst geschaffen und erlöst ist, macht die Werke. Folglich machen schon gar nicht gute Werke gute Menschen; vielmehr vermögen nur gute Menschen gute Werke hervorzubringen. Gut werden wir Menschen aber nur in der Begegnung mit der liebenden Güte Gottes.

In diesem Primat des Lebens vor dem Tun, der Person vor der Leistung und auch des Seins vor dem Design liegt der himmelweite Unterschied zwischen dem unbarmherzigen Marktprinzip in der Weltwirtschaftordnung und dem ernsten Anspruch Jesu Christi im Gleichnis vom anvertrauten Geld. Die Wiederentdeckung dieses Primats verdanken wir auch den ökumenischen Begegnungen in den vergangenen Jahrzehnten; und dafür wollen wir Gott am Beginn des heutigen Tages mit der vorgesehenen Besinnung auf die ökumenischen Früchte zusammen mit unserem Heiligen Vater besonders dankbar sein und uns allein jenes Rühmen gestatten, zu dem uns Jesus selbst auffordert: „Wer sich also rühmen will, der rühme sich des Herrn.“ Ja, rühmen wir den Herrn und feiern wir ihn eucharistisch, dann steht es auch um uns gut. Amen.