Fotos: Michael Hofmann

Referat von Frau Prof. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Athen und Jerusalem. Oder: Neuevangelisierung mit Hilfe der Vernunft?
Ein Blick auf neuere philosophische Entwicklungen (Auszug)

3.3 Auferstehung und Schuldlösung:
Sinnpotentiale des Christentums bei Habermas und Derrida

Die unerwartete Wende von Intellektuellen zu Fragen eines neuen (und alten) Sinnentwurfs läßt sich weiter fortsetzen. Die Suche nach einer Anthropologie „jenseits des Nihilismus“ und „jenseits der virtuellen Konstruktion“ hat schon begonnen; sie zielt auch auf die säkular nicht mögliche Rede von einem Dasein nach dem Tod und – unabdingbar – von einer Schuldlösung angesichts der ungeheuren Verbrechen.
Die Rede ist zum Beispiel von der Notwendigkeit einer universalen Gerechtigkeit – für die im Vergangensein verschwundenen Opfer. Gerechtigkeit, ein Zentralthema der Philosophie seit Platon, bleibe nämlich leer, wenn sie nur auf die Zukünftigen, also auf einen schmalen und noch irrealen Ausschnitt der Menschheit, bezogen würde. „Auferstehung“ wäre die Sinnantwort auf irdisch nicht gutzumachende Leiden: „Erst recht beunruhigt uns die Irreversibilität vergangenen Leidens – jenes Unrecht an den unschuldig Mißhandelten, Entwürdigten und Ermordeten, das über jedes Maß menschlicher Wiedergutmachung hinausgeht. Die verlorene Hoffnung auf Resurrektion hinterläßt eine spürbare Leere“, so – erstaunlicherweise – Habermas’ Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001.[18] Mit anderen Worten: Im Sinngefüge bedarf es einer Antwort auf das menschlich nicht zu Lösende; „Auferstehung“ ist mehr als ein „Anliegen“ in theologischer Metasprache, sie hat eine „Systemstelle“ im menschlichen Verlangen nach endgültiger Gerechtigkeit. Der größere „Rest“ (der Toten und jetzt Lebenden) bleibt ohne Auferstehung einem gerechten Ausgleich für immer entzogen. Daher ist eine Geschichte „mit Finale“ einem zyklischen Weltverlauf ohne Finale gedanklich und religiös vorzuziehen.
Damit begann Habermas ein Gespräch (spektakulär auch mit Joseph Ratzinger 2004)[19], in welchem er Religion im Verhältnis zur Vernunft gleichsam neu kartographiert. Während er in den 90er Jahren starken Nachdruck auf das „nachmetaphysische Denken“ legte[20], gelangt er in einer jüngsten Veröffentlichung zu einer Kritik an dessen scheinbarer Unbefragbarkeit.[21] Zwar beharrt er auf einer „detranszendentalisierten Vernunft“, doch nur im Sinne eines unersetzlichen, notwendig eng fokussierten Instruments von Wissenschaft. Keineswegs aber muß Methode zur Mentalität werden, muß der beschränkende Blick zur beschränkten Weltsicht gerinnen; über (zu glaubende oder zu verwerfende) Inhalte einer religiösen Weltdeutung ist damit nichts entschieden und nichts zu entscheiden. In dieser Trennung von (natur)wissenschaftlicher Methode im Teilbereich und religiöser Hermeneutik des Gesamten öffnet sich – entgegen alten Borniertheiten – das Fenster zu einem neuen Austausch.
Eine zweite, tiefgehende Forderung, wiederum philosophisch ausgesprochen, sogar von einem Agnostiker, kommt hinzu – um so verblüffender, als der kirchliche Usus auf diesem Gebiet immer mehr ausdünnt. Die Rede ist von der notwendigen Absolution von Schuld, und zwar auch von der Verzeihung für die Täter – und sie müßte bis zur Verzeihung des Unverzeihlichen gehen, so Derrida in einem Interview: „Man muß von der Tatsache ausgehen, daß es, nun ja, Unverzeihbares gibt. Ist es nicht eigentlich das Einzige, was es zu verzeihen gibt? Das einzige, was nach Verzeihung ruft? Wenn man nur bereit wäre zu verzeihen, was verzeihbar scheint, was die Kirche ‘läßliche Sünde’ nennt, dann würde sich die Idee der Vergebung verflüchtigen. Wenn es etwas zu verzeihen gibt, dann wäre es das, was in der religiösen Sprache ‘Todsünde’ heißt, das Schlimmste, das unverzeihbare Verbrechen oder Unrecht. Daher die Aporie, die man in ihrer trockenen und unerbittlichen, gnadenlosen Formalität folgendermaßen formulieren kann: Das Vergeben verzeiht nur das Unverzeihbare. Man kann oder sollte nur dort vergeben, es gibt nur Vergebung – wenn es sie denn gibt -, wo es Unverzeihbares gibt. Was soviel bedeutet, daß das Vergeben sich als gerade Unmögliches ankündigen muß. Es kann nur möglich werden, wenn es das Un-Mögliche tut. […] Was wäre das für eine Verzeihung, die nur dem Verzeihbaren verziehe?“[22]
„Übersetzt“ kann dies wohl nur bedeuten, daß es Absolution nur im Absoluten gibt – nicht im Relativen menschlicher „Verrechnung“. Ähnlich wie bei Habermas drückt sich Derridas Forderung im Horizont des „Unmöglichen“ aus, des nur Erwünschten, nicht Realisierbaren; gleichwohl entspricht sie – bis in die Formulierungen hinein – dem Angebot biblischer Neuwerdung auch des Täters, nicht nur des Opfers, in der Ankündigung unausdenklicher Vergebung. Derrida selbst bezieht sich ausdrücklich auf die „abrahamitische Tradition“, deren sich – seiner Meinung nach ungerechtfertigt – mittlerweile auch andere Kulturen bedienten, ohne den Kern, eben jenes Unverrechenbare, zu gewahren und an dessen Stelle einen Polittourismus des gegenseitigen Entschuldens setzten: Die Enkel der Täter entschuldigen sich weltweit bei den Enkeln der Opfer. Eine Entschuldung im Horizontalen gibt es nach Derrida aber gerade nicht. Es geht nicht um den Versöhnungswillen der Politiker, um die Rituale der Selbstbeschwichtigung eines taktisch beschworenen Neuanfangs. Kultur muß, um Kultur zu bleiben, die Stelle für den mehr als sozialen und politisch zwecklichen Pardon offenhalten.
Solche Horizonte zünden gerade in einer agnostischen Kultur, die den Ausfall ausgleichender Gerechtigkeit und die wirkungsvolle Bearbeitung von Schuld nicht kennt.

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© Prof. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz